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Ein liberaler Freifahrschein

Ich war zwar schon in New York, aber tatsächlich noch niemals auf Hawaii. Egal. Fliegen ist teuer. Mit oder ohne Co2-Abgabe. Und Flugreisen sind mittlerweile sowieso irgendwie Igittigitt, nicht wahr?!

Fahren statt fliegen ist hingegen echt mega-end-geil geworden. Zumindest national für drei Monate ab 01. Juni 2022 mit dem ÖPNV. Von Flensburg bis Passau und von Kehl bis Cottbus könnte ich in den Kern-Sommer-Monaten mit einem 9,00-Euro-Pauschal-Ticket pro Monat die ganze Republik bereisen. OK – ICE ist nicht. Fast. Denn in Baden-Württemberg wurde entschieden, dass man auch auf der sogenannten „Gäu-Bahn“ Strecke mit dem ICE zum Bodensee fahren kann. Ansonsten gilt das Happy-Summer-Ticket nur für U-Bahn, S-Bahn und Regional-Züge. Nun gut.

In meinem Fall ist das wurscht. Im Beruf des Grafik-Designers arbeite ich schon seit rund 35 Jahren from home bzw. on remote (der Begriff Home-Office ist ein dümmlich-deutscher Anglizismus-Missbrauch) und während 10 Jahren Festanstellung als art director in Stuttgart lag die Arbeit gebende Werbe-Agentur ca. 3 Geh-Minuten von meiner Wohnung entfernt.

Die Pendler-Pauschale oder das Job-Ticket sind für mich nach wie vor Fremdworte und tauchen in meinen Steuererklärungen als Abrechnungsposten nicht auf. Mit dem ehelich gemeinsam genutzten PKW legen ich und meine Frau im Jahr so wenig Kilometer zurück, dass sich die Werkstatt bei der TÜV-Abnahme immer wundert, dass die Bremsbeläge fast wie neu aussehen. Jaha – ich weiß. Im ländlichen Raum stellt sich alles ganz anders dar, als in der Stadt. Und dennoch, das 9-Euro-Ticket für drei Monate ist eine energiepolitische Lachnummer. Oder eine Milchmädchenrechnung.

Der Bundesverkehrsminister Volker Wissing sagte zur Maßnahme des seitens der Bundesregierung mit rund 2,5 Mrd. subventionierten „Feldversuches“ zum Energiesparen vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bereits am 29. 04. 2022 im Interview mit dem Deutschlandfunk – „Wir wollen den Fokus auf den ÖPNV legen. Wir wollen einen Anreiz zum Energiesparen setzen. Und wir wollen, dass diejenigen, die den ÖPNV noch nicht kennen, zu einem sehr günstigen Tarif ihn jetzt mal ausprobieren können.“

Äh? 1870 eröffnete man in London die erste U-Bahn Linie weltweit, die erste elektrische Straßenbahn fuhr ab 1881 in Berlin-Lichterfelde und Linienbusverkehr aller Art gibt es auch schon seit rund hundert Jahren. Gibt es wirklich noch Menschen, die öffentliche Verkehrsmittel noch nicht kennen? OK – es gibt einige indigene Völker, die machen alles zu Fuß, aber auch die haben schon von einer Eisenbahn oder einem Omnibus gehört. Genauso wie Besserverdiener-FDP-SUV-Automobilist*innen.

Was wird geschehen ab dem 01. Juni 2022 am und nach dem Start der neuen ÖPNV-Offensive? Energieverbrauch- und Kostenreduzierung im Kampf gegen Putin? Nein. Jene Deutschen, die im notorischen Alltag aus beruflichen Gründen, aus Kinderbetreuungs-, Pflege- und sonstigen Lebensbewältigungsgründen den ÖPNV bereits primär oder stark nutzen, werden es weiterhin tun. In den Groß-Städten und in Regionen mit einer passablen Nahverkehrsinfrastruktur. Hier dürfte kein nennenswerter „Kick-Effekt“ entstehen.

All diejenigen, die aus der Pampa in die Städte pendeln müssen, vom Dorf zur Arbeit, zum Arzt oder zum Amt in die Stadt fahren müssen, werden es weiterhin mit dem Auto tun. Denn nur der drei Mal am Tag fahrende Bus wird nicht attraktiver, nur weil er ein viertel Jahr lang für 9,00 Euro pro Monat nutzbar gemacht wird.

Desweiteren erwartbar ist auf der psychologischen Ebene eine Zunahme an mobiloplenophopischen Verhaltensweisen in der Bevölkerung, sprich die Angst vor überfüllten Zügen und Bussen steigt. Infolgedessen dürften nicht wenige Menschen, die bisher ihr Auto zugunsten der ÖPNV-Nutzung stehen ließen während der kommenden drei Monate wieder zum PKW greifen. Wegen Platzangst in möglicherweise überfüllten Bahnen und Bussen beim Fahren zur Arbeit oder zum Arzttermin. Zugegeben ein jetzt noch nicht berechenbares psychologisches Moment, aber menschliche Schwarm-Intelligenz Verhalten hat schon öfter diesem oder jenem politischen Konzept einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Statt ohne Sitzplatz mit durchgestreckten Beinen auf rund dreißig Quadratzentimeter Stehfläche zwischen Massen anderer Menschen im Gang von überfüllten Wagons und Kabinen eingequetscht zu sein, dabei den Rucksack des Vordermannes im Gesicht habend während das Rad eines Kinderwagens an der Ferse scheuert und der Geruch einer würzigen Palette an Körperausdünstungen in den Sommermonaten die Nase ätzend durchdringt, dürfte so mache/r Zeitgenoss*in eine Autofahrt inklusive Stehen im Stau einem solchen ÖPNV-Feldversuch vorziehen. Vom weiteren Maskentragen in Bussen und Bahne ganz zu schweigen.

Neben den, bis hier hin geschilderten Szenarien dürfte es jedoch zu einer weitaus bedrohlicheren Eskalationsstufe kommen. Bereits Anfang Juni am Pfingstwochenende 2022 wird es losgehen. Und rund 10 Tage später drauf – überall dort wo Fronleichnam Feiertag ist – weitergehen. Der Freizeit-Run-Fun auf die Nahverkehrsvehikel. Fahr mal hin. Nahezu für Umme. Und alle Medien – von den Ratgeber-Sendungen im TV bis zu den Online-Redaktionen der Tageszeitungen – rufen schwerpunktmäßig eher die Bevölkerung zum Reisen durch die eigene Heimat auf, anstatt sich mit einer kritischen Bewertung von Wissings Reisefreiheitskonzept zu befassen.

Unzählige Rund-Mails werden innerhalb der 60plus Generation verschickt werden. Parole: Freizeit-Freedom. Macht euch Reisebereit. Schnürt eure Rucksäcke und ladet die E-Bikes auf. Kein schöner Land in dieser Zeit, Fallerera. Mittels Bussen und Bahnen werden sich unzählige Silversurfer-Gruppen für den Frieden und wegen der Umwelt auf den Weg machen, um Deutschlands schönste Ecken neu zu entdecken. Man war zwar schon hier und dort in früherer Zeit – aber eben noch nie für 9,00 Euro im Monat so oft man will. Schnäppchen-Reisen durchs eigene Land – besser kann man Heimatgefühle nicht ausleben, zwischen Flensburg, Passau, Kehl und Cottbus. Hin und zurück, kreuz und quer, einen Sommer lang.

Der Nahverkehrskollaps droht; er muss nicht kommen, könnte aber, wie früher beim „Schöne Wochenend-Ticket“. Oder wie im Falle von Stauwahrnungsmeldungen am Beginn der Ferienzeit. Da heißt es auch oft in den Medien und mit der Nina-Wahrn-App immer öfter – um Staus mit dem Auto zu vermeiden fahren sie nicht erst am späten Vormittag los, sondern bereits am frühen Morgen. Und alle fahren dann ab frühem Morgen los und landen im Vormittagsstau.

Wissing weiß, was Freedom-Wähler wollen und erneut haben die Liberalen die gesamte Ampel-Regierung vor ihren Karren gespannt. Und alles Knirschen und Murren wird weggelächelt. Falls es demnächst auf den Bahnsteigen zu eng wird, radlerfreudige Rentner sich mit alleinerziehenden Müttern um die besten Stellplätze für Fahrräder und Kinderwagen in Abteilen streiten, überfüllte Züge und Busse für Verspätungen sorgen, mobilfreudige Menschen lieber dann doch wieder das Auto nehmen und möglicherweise der ÖPNV-Kollaps wegen Kapazitätsmangel in Sachen Material und Personal droht, rät der Verkehrsminister salomonisch - „Und da müssen wir uns vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch mit einem Lächeln begegnen, wenn man mal einen Zug nicht nehmen kann und auf den nächsten wartet." Und wer zu spät lächelt, den bestraft das Leben, oder wie oder was?.

Mehr Mobilität wagen, Freiheit statt Automobilismus oder Fahrbereit, wenn ihr es seit – Wissings Nahverkehr-Offensive vereint und vereinnahmt nahezu alle bekannten Partei-Parolen aus vergangenen Tagen in einer Art FDP-Wundertüte.

"Es ist eine Sensation, dass wir so etwas hingekriegt haben", bekundete der Verkehrsminister nachdem sein ÖPNV-Plan schließlich auch durch den Bundesrat abgesegnet wurde.

Im Wahlkampf 2021 traten die Liberalen fast ausschließlich mit Christian Lindner im schwarz-weiß fotografierten Reportage-Stil auf und postulierten dazu auf grell farbigen Text-Balken z.B. Slogans wie „Warten wir nicht auf morgen. Gehen wir hin.“ Nette Partei-Poesie.

Im bisher bekannten Raum-Zeit-Kontinuum – außer im „Raumschiff Enterprise“ und im Film „Zurück in die Zukunft“ – ist es allerdings unmöglich, an einem jeweiligen Heute mal eben schnell in ein Morgen (oder auch ins Gestern) zu gehen. Zukunft und Vergangenheit sind physisch nicht begehbar. Auch nicht befahrbar.

In der Gegenwart ist allerdings die Zukunft erwartbar. Und sogar absichtsvoll gestaltbar. Aber sicher nicht mit unausgereiften Reisefreiheitskonzepten als punktuell-kurzfristiger Maßnahme im Gewand einer angeblichen Mobilitätswende zugunsten des ÖPNV vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine á la FDP.

Eine verstärkte Mobilitätsnutzung von Bahnen und Bussen dient grundsätzlich und zweifelsfrei der Öko-Umwelt im Kampf wider den menschengemachten Klimawandel. Das aktuell auf den Weg gebrachte 9-Euro-Ticket wird energiepolitisch so gut wie nichts bewirken. Unter dem Strich – falls ein verstärkter Run auf Freizeit-Fahrten kreuz und quer durch die Republik ausbleiben sollte – wird es ein Nullsummen-Spiel sein, was die FDP in der Ampel-Regierung auf den Weg gebracht hat. Falls zu viele Bürger*innen oft und gerne im Zuge von drei Monaten wegen Freizeit-Spaß kreuz und quer durch Deutschland fahren, droht ÖPNV-Kollaps oder und vor allem Defizit in den Kassen der Betreibergesellschaften im ÖPNV. 2023 dürften Fahrpreiserhöhungen die Folge sein. Nicht nur wegen kurzfristig entgangener Beförderungsgelder, sondern eben auch wegen der aktuell gesteigerten und weiter steigenden Energiekosten in naher Zukunft. Ob ab Herbst 2022 signifikant mehr Menschen vom Auto auf den ÖPNV umgestiegen sein werden.

Abschließend mal politisch unkorrekt extrem ausgedrückt und streng genommen - für drei Monate lang macht der Verkehrsminister Wissing lediglich staatlich subventioniertes „Schwarzfahren“ möglich. In diesem Sinne – keep on rollin'.

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