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Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Wer mal in Georg Büchners „Der hessische Landbote“ blättern will, der kann das in der Leseecke im Buchhaus Wittwer tun. Hugendubel, die andere Leseerlebnisweltmacht in der Stuttgarter Königstraße, macht demnächst dicht. Karstadt auch. Und der einzige Döner-Imbiss in Stuttgart-Heumaden hat vor einem Monat auch zum letzten Mal gefragt „Scharf oder nicht so scharf?“.

Auch wenn das Ende dieser drei Unternehmen auf Stuttgarter Boden nichts mit den jüngst zurückliegenden Eröffnungen der zwei Shopping-Center „Gerber“ und „Milaneo“ zu tun hat, weist der Niedergang der einen und der Aufstieg der anderen dennoch auf etwas hin, das seit eh und jeh Verdrängungswettbewerb genannt wird. Das ist in Stuttgart so, das ist in vielen anderen Städten so und es ist auch in Esslingen so. Wenn der dortige Oberbürgermeister seine Stadt als das „schönste Freilichtkaufhaus in der Region“ bezeichnet und zugleich eine verschärfte „Kannibalisierung der Einzelhandelsstandorte“ in der Region erkennt, die zudem von Stuttgart als „offene Feldschlacht im Einzelhandel“ eröffnet worden ist, dann wissen wir, worum es geht. Es geht um den Kampf beim Kassenklingeln.

Jede größere Kommune in der Region versucht dabei, gegen die jeweils anderen mit den Vorzügen ihrer angeblich besonders attraktiven Erlebniswelt aus Shopping-Fun, Fast-Food-Fingerei und Flatscreen-Schnäppchen zu werben. Denn am Ende des Tages steckt hinter jedem Lohn des Verkaufspersonals und in jedem verkauften Teil auch eine Steuereinnahme für die Kommune. OK – sofern die Unternehmen nicht in Luxembourg versteuern lassen statt vor Ort. Hier sollte man vielleicht mal wieder mit dem kleinen Einmaleins ansetzen und dann unter die Gesamtrechnung - von der Produktion, über den Handel bis hin zum Dienstleistungsbereich - einen Strich machen. Vielleicht so ähnlich wie auf der ersten Seite von Büchners „Der hessische Landbote“.

Möglicherweise wird dann erkennbar, dass das allgemeine Beklagen und Herumheulen über das Sterben einiger Einzelhandelsgeschäfte – vom sprichwörtlichen Tante-Emma-Laden bis zum vielfach beschworenen inhabergeführten Familienbetrieb – das allerkleinste Problem in einer globalisierten Weltwirtschaft ist.

Heutzutage fürchtet man in Stuttgart rund um die Königsstraße, vom Gerber und vom Milaneo quasi in die Zange genommen, um die Existenzen im Einzelhandel und in den Verkaufsgeschäften. Man gründet mit einem Dutzend „Aufrechter“ eine so genannte Platzhirsch-Initiative, man macht Fluxus-Experimente in der Calwer-Passage oder man trauert mit den Haufflers, weil die in der eigenen Immobilie am Markplatz ihren ohnehin vielfach überteuert gewesenen Papier- und Bürobedarfladen schließen. Und zu guter letzt bestellt dann der aufgeklärte Konsument als weiterhin herrschender „König Kunde“ dann doch via Internet.

Man sehnt sich nach den guten alten Zeiten zurück, als die Einzelhandelswelt zwischen Bahnhof- und Tagblattturm angeblich noch in Ordnung war. Doch in der Rückschau verklärt sich so manches. Heute weint man dem Elektro- und Unterhaltungsmediengeschäft Lerche nach. Als Lerche seinerzeit einen Laden nach dem anderen auf der Königstraße eröffnete und mit Billig-Angeboten im TV-, HiFi-, Foto- und CD-Bereich anderen Einzelhändlern im selben Branchenbereich im Umfeld der Königstraße das Leben schwer machte, da wetterten die Stuttgarter über den damaligen Platzhirschen und freuten sich zugleich über dessen unschlagbar günstige Schnäppchenpreisgestaltungen. Zur damaligen Zeit heulten andere, kleinere Elektrofachgeschäfte. Dann kam der Media-Markt. Vom Computer bis zur Dreifach-Steckdose wurde alles Elektronische und Elektrische nochmals unschlagbar günstiger. Nun heulte man im Hause Lerche und löste sich unter Tränen auf. Mit „Geiz ist geil“ kam zusätzlich Saturn auch nach Stuttgart, Conrad zog vor ein paar Jahren um und vergrößerte sich und seitdem warten alle nur noch auf den magischen Moment, da in Cupertino/California ein „Go“ für Stuttgart ausgesprochen wird. Doch das wird noch eine gefühlte Ewigkeit dauern. Vorher bekommt Berlin seinen zweiten Apple Store am Wolfgang-Thierse-Platz. Yes!

Ich bin doch nicht blöd, sagen sich natürlich auch alle, die das nächste T-Shirt immer zum halben Preis gegenüber dem vorherig gekauften T-Shirt ergattern können. Wer bei der Primark-Eröffnung im Milaneo versuchte, an den über drei Stockwerke verteilten und von zahlreichen Ordnungskräften eskortierten Massen vorwiegend Jugendlicher vorbei zu kommen, dem konnte spätestens dann klar werden, dass nicht die Konzerne allein die Verantwortung bezüglich des Niedergangs der kleineren Geschäfte mit nur einer Glasschiebetür als Eingangsbereich innehaben. Der Konsument – mittlerweile wahrscheinlich schon als Kita-Kind im Alter von drei Jahren – trägt ebenso seinen Anteil bei. Es ist ähnlich wie im Konzertbetrieb – er funktioniert nur, wenn dem musizierenden Orchester ein rezipierendes Publikum gegenüber sitzt. It takes two, to tango, wie der Schwabe sagt. Die Musik spielt auf beiden Seiten, auf den Instrumenten der Produzenten und des Marktes und im Ohr und Verstand der Konsumenten. Und so gilt zwar nach wie vor im kannibalischen Kampf um König Kunde im knallhart kalkulierten Preiskrieg für alle Hütten, Paläste und natürlich auch für das schwäbische Eigenheim die Weisheit des „Element of Crime“ Sängers Sven Regner: Alter Scheiß muss raus und neuer Scheiß muss rein. Doch ebenso gilt: Nicht jeder Scheiß taugt etwas, nur weil er da ist. Herrgottssack.

Manchmal aber sind auch die Götter in den Konsumtempeln gnädig und verzaubern uns mit tatsächlich neuen, noch nie da gewesenen Angeboten zur Verbesserung unseres Daseins im irdischen Jammertal. Im neuen Gerber, zu Recht etwas weniger gescholten als das Milaneo, findet sich im oberen Geschoss ein Geschäft ganz ohne Glasschiebetüren, ja gänzlich ohne geschlossene Eingangsfront. Ein völlig offener, nur mit einem Lichtbogen-Design eingefasster Eingangsbereich über die volle Breite des Ladens. US NAILS.

An einem ringartigen Ensemble aus einem großen Tresentisch und allerlei motorisierten Kleingeräten sitzen sich Menschen fast stumm gegenüber und kommunizieren doch. Beim genaueren Hinsehen erkennt man was getan wird und worum es geht – es geht um Haut, Horn und Haar. Das wahre wirklich neue große Ding in Stuttgart: PUBLIC PEELING.

Ich stehe oft und gerne einfach nur mit etwas Abstand neben der Rolltreppe vor diesem Ladengeschäft und spüre wie die Wellness-Vibrationen aus dem Ladeninneren – allein durch hinhören und zusehen – entspannend auf meine fast immer wegen unablässigem Bruddlertum aufgerollten Fußnägel wirken. Echtes ZEN. Hier wird die Shopping-Erlebniswelt in Stuttgart für wenige Momente fast wirklich zu einer wahren Shangri-La-Erfahrung. Mein Fazit: Ein Muss für alle Wutbürger in der Stadt.

0711 · EIN KESSEL BUNTES
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