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Fahrerwechsel im Sozi-Rennstall zum Saisonstart 2017

Lange wurde gezögert im Jahr 2016, viel Meinung wurde erforscht, einiges an neuem Material wurde getestet, es wurde geschraubt, geschweißt, justiert und nach den richtigen Reifen gesucht. Am Ende – dann doch etwas früher als ursprünglich angekündigt – hatten die Ingenieure im Willy-Brandt-Haus aus einem Rahmen, einer Karrosserie und einem Motor einen halbwegs verlässlichen Boliden für das Rennen zur Bundestagswahl 2017 zusammengebastelt. Jedoch – ins fertige Fahrzeug passte der bisher favorisierte Fahrer nicht mehr rein. Auf der Motorhaube der rot lackierten Rennmaschine war bereits ein neues Team-Motto eingraviert: Grüße Goslar – wünsche Würselen.

Sigmar Gabriel wollte nach der Wahlschlappe der SPD bei der Bundestagswahl 2009 vieles anders und neu machen. Raus aus den miefigen Hinterzimmern der Ortsvereine, wieder näher ran an die Menschen. Die innerparteiliche Demokratie weiterentwickeln und stärken, z.B. durch mehr Basisbeteiligung an Entscheidungsprozessen an der Parteispitze, durch Mitgliederbefragungen, Mitgliederentscheiden, diskursfreudigen Parteikonventen als lebendige Erweiterung oft trockener Parteitage, verstärkte Einbeziehungen von Gesellschaftsgruppen, die kein SPD-Parteibuch in der Tasche, jedoch sozialdemokratische Sympathien in Hirn und Herz haben u.ä.m. Und das alles eingebunden in den Appell, dass die SPD-Mitglieder wieder häufiger und intensiver interessiert dorthin gehen sollen, wo es stinkt. Die Signale und Angebote für eine erneuerte „Mitmach-SPD“ waren damals alle ausreichend da – hinreichend wahrgenommen wurden sie von der so oft beschworenen SPD-Basis allem Anschein nach kaum.

Innerparteilich hat sich durchaus einiges positiv entwickelt, was die interne Streitkultur betrifft. Richtungskonflikte und insbesondere die beliebten „Flügelkämpfe“ wurden in den zurückliegenden Jahren bei weitem nicht mehr so selbst zerstörerisch ausgetragen, wie man es oft von der SPD gewohnt war. Begriffe wie Geschlossenheit und Zusammenhalt haben wieder mehr glaubwürdiges Gewicht gewonnen – von der unsäglichen TTIP-Debatte mal abgesehen.

Sigmar Gabriel ist es bemerkenswert gut gelungen, den „Laden“ über rund sieben Jahre als Parteivorsitzender so gut zusammenzuhalten, dass man in der Öffentlichkeit mittlerweile wieder eine – und nicht ein halbes Dutzend gefühlter – Parteien namens SPD wahrnimmt. Im Inneren stimmt’s strategisch im Großen und Ganzen, aber nach außen hin will’ bis heute nicht’s so richtig klappen. Ständig dieses Klagen und Heulen darüber, dass man ja eigentlich gut mitregiert, ja fast die prägendere Partei in der Großen Koalition sei, aber niemand erkennt es, belohnt es und sagt danke.

Ein wesentlicher Grund für die mangelnde Anerkennung der SPD-Leistungserfolge scheint zu sein, dass sich ein Großteil der SPD-Basis nach der Ära Schröder seit 2005, allzu tunnelblickartig auf ein kaum nachlassendes Agenda 2010 Bashing eingeschossen und eingeschworen hat und dies Genörgel auch dem Wahlvolk immer wieder unter die Nase reibt. Es macht einen großen Unterschied, ob man konstruktiv systemische Fehler kritisiert, auch selbstkritisch reflektiert oder ob man aus eigenem Wohlgefallen heraus nörgelt, nur um des Nörgelns willen und dabei zugleich das ganze System zum Teufel wünscht. Reiner Frust, verletzter Stolz und eitle Affekthascherei sind keine guten Antriebskräfte im politischen Geschäft.

Oft drängte sich der Eindruck auf, dass zu viel Geschlossenheit und Einigkeit in den eigenen Reihen, an der Basis fast als verpönt gilt, weil man sich in teilweise allzu romantisierender Weise nach den guten alten Zeiten zurücksehnt, als man sich tatsächlich noch durch innerparteilichen Streit Mehrheiten erobern konnte.

Diese guten alten Zeiten enden bei zahlreichen Sozis mit Willy Brandt, spätestens mit Helmut Schmidt. Gerhard Schröder will da in der Rückschau schon nicht mehr ins Bild passen und ein Großteil jener bis heute führender Sozialdemokraten auch nicht, weil sie als ‚Schröders Agenda Helfer’ mit ihm in einen Topf geworfen werden. Doch die vermeintlich guten alten Zeiten für die gute alte Tante SPD sind rum. Es herrschen andere Zeiten und so manches Mitglied mit der silbernen Ehrenadel für 40 Jahre Parteizugehörigkeit am Revers, aber auch manche Jusos mit Schnellschuss-Ambitionen mögen mal über diese altbekannten und weiterhin gut gültigen Sätze von Willy Brandt wieder genauer nachdenken: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“. Die Betonung liegt hier auf „jede Zeit eigene Antworten will“.

Und so wird auch für Martin Schulz die selbe große Herausforderung weiterhin auf dem Tisch liegen, wie sie seit Schröders Tagen auf den Tisch gelegt worden ist: Eine moderne SPD auf der Höhe der Zeit zu entwickeln und zukunftsfest zu etablieren, eine SPD, die derzeit immer noch in weiten Teilen von einer wenig modernisierungsfreudigen und gelegentlich auch kulturpessimistischen Basis getragen wird.
Nicht nur jüngst bei ‚Anne Will’ hat man in den wenigen Tagen seiner gesteigerten Deutschland-Präsenz von Martin Schulz schon einiges gehört, insbesondere zur Steuergerechtigkeit – ein appellierendes Wort oder ein begeisternder Satz der irgendetwas mit Jugendkultur, gesellschaftlichem Aufbruch oder gar jugendlicher Avantgarde zu tun hat, war nicht dabei.

Die personalpolitische Rochade – mehr ist es bisher noch nicht – Schulz statt Gabriel als Kanzlerkandidat aufzustellen, war ein richtiger Schachzug im Spiel, um die Dame Merkel bis zum September 2017 übers Brett zu jagen. Zum Schachmatt wird es jedoch kaum reichen. Sympathiewerte für Personen in Polit-Barometern sind Etiketten zur relativen Eitelkeitsbefriedigung. Das Volk wählt Parteien mit den jeweiligen Personen und nicht andersherum.
Mit Sigmar Gabriel wäre das Rennen um den ‚Großen Preis von Deutschland’ in den kommenden acht Monaten möglicherweise eine zu wirre Schlingerfahrt mit zu vielen Boxen-Stopps geworden. Ein Start-Ziel-Sieg ist mit Martin Schulz erwartbarer geworden. Vielleicht scheitert er auch nur anders, als es Sigmar Gabriel gelungen wäre, weil ja zwischen Kandidat und Wählern immer auch die Partei die Hände vielzählig ausstreckt. Gerhard Schröder wurde erst Kanzler und ein gutes halbes Jahr später auch SPD-Vorsitzender. Erst die Arbeit – dann das Vergnügen.

Nun – die Startlinie ist jetzt gezogen – das Ziel ist auch bekannt. Was bisher fehlt, ist die Streckenkenntnis auf heimischem Parcours. Oder anders gefragt – kann Martin Schulz überhaupt soviel eigene Fahrer-Qualitäten entwickeln und ausüben, wie sie ihm als Lorbeervorschuss schon jetzt – lange bevor er sich den Siegerkranz überhaupt umhängen lassen könnte – zu Teil werden. Sigmar Gabriel dürfte als Rennleiter weiterhin deutliche Pistenpräsenz zeigen. Allerdings – viel Zeit ging der SPD vorplanerisch verloren. Das werden nun besonders die Kampa-Macher spüren, wenn sie ab sofort auf heißer Tastatur und mit glühendem Cursor die große ‚ Schulz-Erzählung’ texten und bebildern müssen. Und dies wird nicht nur werbetechnisch sondern vor allem auch inhaltlich die große Frage sein – was will Schulz? Und was darf er können?

Die Vorgaben liegen teilweise schon bereit und kündigen Widersprüche und Konflikt an. Sigmar Gabriel hinterlässt – um hier nur ein Beispiel herauszugreifen – einigermaßen weithin ausgefertigte Konzepte unter Titeln wie „Soziale Sicherheit in unsicheren Zeiten“ oder „Starke Ideen für Deutschland 2025“. Das neue SPD-Zauberwort als große Klammer für den gesellschaftlichen Zusammenhalt heißt Soziale Sicherheit und nicht mehr Soziale Gerechtigkeit. Martin Schulz ist ein alter Freund von Sigmar Gabriel. Im Zuge der aktuellen Koalitionsregierung ist ihm Heiko Maas ein neuer Freund geworden.

Schon seit längerer Zeit findet sich auf der SPD-Homepage der Begriff Soziale Gerechtigkeit als einzelner Themenpunkt nicht mehr. Auch der Begriff Kulturpolitik ist als singuläre Nennung im Themen-Bouquet verschwunden.
Allenthalben tauchen in den digitalen SPD-Publikationen Botschaften im Kampf gegen Rechts auf – gut und richtig und nötig. Aber diese ‚Appelle der Anständigen’ eben in keiner Weise kampagnenfähig.

Es wird nicht leicht für Martin Schulz als dem neuen und übermäßig hochstilisierten neuen ‚Messias’ der SPD. Mal schauen wie lange die Zeitreise dauend wird, bis sich da die berühmte Klare Kante herausschält und Ralf Stegner nicht drängelnd aus dem Off rufen muss – jetzt aber mal endlich ‚Butter bei die Fische’.

Ausgiebig Zeit ist in jedem Fall nicht. Ein per Plakat in die Kameras im Willy-Brandt-Haus spontan hochgehaltener Slogan-Test stimmte wenigstens: Jetzt ist Schulz.
Abschließend sei daran erinnert, dass Sigmar Gabriel in seiner Dresdner Rede 2009 auch auf etwas sehr wichtiges hingewiesen hatte, das die SPD-Basis bis heute noch nicht so richtig gelernt hat, indem er ein chinesisches Sprichwort zitierte: „Wer nicht lächeln kann, der soll keinen Laden aufmachen.“

Martin Schulz hat damit kein Problem – der Mann lächelt sympathisch und vor allem ist es ein ehrliches Lächeln. Doch Lächeln reicht nicht für alle als Motivationsschub. Die Genoss*innen-Basis muss am Wahlkampfstand und bei Hausbesuchen ebenfalls die Mundwinkel hochbekommen. Am Abend des Wahlsonntag am 24. September 2017 kommt dann möglicherweise tatsächlich wieder neue Freude auf – vielleicht bei 30% plus X.

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