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Vom Willen beseelt – und von Dummheit geritten


Über Michael Ballweg und das Grundgesetz.

Seit seiner Etablierung im Jahr 1949 erfuhr das Grundgesetz zahlreiche Änderungen. Zu den ursprünglichen Artikeln kamen diverse ergänzende Artikel hinzu, wenige Artikel fielen weg und einige Artikel wurden im Zuge der Zeit in ihren Texten abgeändert. Die drei wesentlichen Änderungen des Grundgesetzes betreffen die Einführung der Wehrpflicht (1958), die Einführung der sogenannten Notstandsgesetze und die Änderungen nach dem Erlangen der deutschen Einheit (1989 / 1990). Im Einzelnen gab es seit 1949 über 60 Änderungen in Artikeln des Grundgesetzes.

Auf dem ab ca. Mai 2020 bestehenden und mittlerweile mit umfangreichen Inhalten gefüllten Online-Portal der Bewegung Querdenken 711, findet sich zum eigentlichen Thema unter dem Slogan „Wir für das Grundgesetz“ lediglich ein so genanntes Manifest mit spärlich formulierten Forderungen. Zu I. Die Grundrechte wird als Kernforderung der Satz formuliert, „Wir bestehen auf die ersten 20 Artikel unserer Verfassung, insbesondere auf die Aufhebung der Einschränkungen durch die Corona-Verordnung“. Dies spezifisch in Bezug auf die von Querdenken 711 genannten Grundgesetz-Artikel 1, 2, 4, 5, 7, 8, 11, 12 und 13.

Das Grundgesetz – Michael Ballweg und die Seinen formulieren es hier richtig – ist „unsere Verfassung“. Die Anzahl der ersten Artikel unter I. Die Grundrechte beläuft sich allerdings auf 22 und nicht 20 Artikel. 12a, 16a und 17a sind eigenständige Artikel.
Das Grundgesetz ist die rechtmäßige deutsche Verfassung, es heißt nur nicht so in der Titulierung. In den Niederlanden und Finnland z.B., heißt die Verfassung ebenfalls Grundgesetz.

In einem weiteren kurzen Absatz heißt es dann, „Wir sind überparteilich und schließen keine Meinung aus - nach Wiederherstellung des Grundgesetzes sind dafür wieder alle demokratischen Mittel vorhanden.“

„Nach Wiederherstellung des Grundgesetzes.“ Michael Ballweg und andere Protagonisten seiner Querdenken-Bewegung gehen also davon aus, dass das Grundgesetz zumindest in Teilen außer Kraft gesetzt ist – ansonsten müsste es ja nicht wiederhergestellt werden.

Zu diesen wenigen Anmerkungen im Querdenken-Manifest gibt es keine weiteren Erläuterungen, keine eigenen Vorschläge oder Konzepte bezüglich des geforderten Wiederherstellungsbedarfs der angeblich ausgehebelten oder gar außer Kraft gesetzten acht genannten Grundgesetz-Artikel (siehe oben).
Gefordert werden seitens Ballweg und seinen Querdenkern zusätzlich „Neuwahlen im Oktober 2020“ und – ziemlich schwammig formuliert - werden alle Parteien aufgefordert, „ihr Parteiprogramm auf die neue Lage anzupassen und den Bürgern darzustellen, wie und unter welchen Lebensumständen in der Sonderlage Pandemie zu rechnen ist.“

Michael Ballweg und seine Querdenker stellen ohne Erläuterungen und Argumente im Einzelnen einfach die Behauptung auf, dass das Grundgesetz im Falle von einigen Artikeln außer Kraft gesetzt sei, um dann aus dieser Behauptung heraus als Wahrer und Hüter – „Wir für das Grundgesetz“ – dessen Wiederherstellung zu fordern. Dummes Geschwätz, sagt man im Schwabenland zu solchen Äußerungen. Denn Ballweg und Konsorten halten sich lediglich an einzelnen Sätzen in den erwähnten Artikeln fest, scheinen aber das Grundgesetzt insgesamt nicht gelesen zu haben - insbesondere nicht Artikel 11 (2) und Artikel 80.

Artikel 11

„(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.

(2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.“

Artikel 80

„(1) Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. Ist durch Gesetz vorgesehen, daß eine Ermächtigung weiter übertragen werden kann, so bedarf es zur Übertragung der Ermächtigung einer Rechtsverordnung.“

Beide Grundgesetz Artikel führen letztendlich zur Anwendung des Infektionsschutzgesetz (IfSG), aus dem dann die Ermächtigung erwächst, Rechtsverordnungen zu erlassen.

Im Zusammenspiel von Grundgesetz-Artikeln, im Falle drohender Gefahr und erkennbarer Notstandslagen - Artikel 11 (1), Artikel, Artikel 80 (1) sowie im Zusammenhang auch 74 (1) Punkt 19 - ist eine rechtstaatlich einwandfreie Ermächtigungssituation auf der Ebene des Regierungshandelns hergestellt und zur Anwendung gebracht worden.

Nicht das Grundgesetz steht hier zur Disposition, muss „verteidigt“ werden oder hat durch Regierungshandeln im Krisenfall an Wirkungskraft verloren oder Schaden genommen, sondern im Mittelpunkt der Diskussion steht das seit langem etablierte Infektionsschutzgesetz (IfSG), dass per grundgesetzlich gegebener Anwendungsmöglichkeit derzeit zum Tragen gekommen ist. Aus dem IfSG heraus erklären sich die erlassenen Rechtsverordnungen, sprich die zur Zeit geltenden Corona-Verordnungen auf Bundes- und Länderebene. Die damit in der Tat einhergehenden, teilweise und temporär wirksamen Be- oder Einschränkungen bestimmter Grundrechte und Freiheitswahrnahmen fußen auf dem zur Anwendung gekommenen IfSG und nicht auf einer wie auch immer herbeigeredeten Deformation des Grundgesetzes selbst.

Grundgesetzwidrig oder grundgesetzliche Maß- und Vorgaben missachtend wäre es gewesen, wenn die Bundesregierung nicht in Berufung auf Artikel 11 und Artikel 80 des Grundgesetzes und durch Anwendung des IfSG, Maßnahmen zur Covid-19 Pandemie-Bekämpfung ergriffen hätte.

Eine kritische Debatte bezüglich der ergriffenen und aktuell weiter laufenden Maßnahmen und Verordnungen ist somit auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes zu führen, dabei durchaus die hier einschlägig genannten Artikel des Grundgesetzes mit im Blick habend.

Nicht hilfreich, weil teilweise von Dummheit geritten, sind dabei die bisherigen Beiträge und Veranstaltungen der Querdenker-Bewegung mit ihrer „vom Nordstern geleiteten“ Licht-Figur Michael Ballweg allen vorn. Ballweg und die Seinen spielen sich in der Pandemie-Krise auf ihren Demo-Veranstaltungen zu Hüter*innen des Grundgesetzes und zu Wahrer*innen der Freiheit auf, sympathisieren aber zumindest mit demokratie-feindlichen Kräften aller Couleur. Bestes Beispiel – inzwischen auch in Ballwegs Kopf angekommen – die Missinterpretation des Grundgesetz Artikel 146.

Auf der Querdenken Demo-Veranstaltung am 29. 08. 2020 in Berlin sagte Ballweg in seiner Auftaktrede, „Ich stehe hier mit dem Grundgesetz, dass uns seit mehr als 70 Jahren die Grundrechte garantiert. Es ist das beste was uns bisher passiert ist, aber konnte uns im Jahr 2020 nicht davor beschützen, dass die Regierung sich immer weiter selbst ermächtigt.“

Schon diese Aussage ist Fakten verfälschend. Wie oben dargestellt, ist das IfSG infolge Artikel 11 und Artikel 80 zur Anwendung gelangt. Dies ist ein vom Grundgesetz gedeckter Ermächtigungsvorgang im klar definierten Krisenfall der Covid-19 Pandemie Bekämpfung, bedeutet allerdings nicht, dass sich „die Regierung immer weiter selbst ermächtigt“ weil uns das Grundgesetz angeblich „im Jahr 2020 davor nicht beschützen kann“.
Das Gegenteil ist der Fall – aus dem Grundgesetz geht klar hervor, dass zum Schutz und zur Abwendung von Krisen und Gefahren – hier der Notstand einer Seuchen-Gefahr – entsprechende Gesetze zur Abwehr dieses Notstandes – hier das IfSG – zur Anwendung kommen können, sollen oder müssen; je nach Dringlichkeit und Ausmaß der Krisen-Situation. Und aus dem IfSG heraus ergeben sich die aktuellen so genannten Corona-Verordnungen, die in der Öffentlichkeit durchaus umfänglich diskutiert und auch kritisiert werden. Auch von Michael Ballweg und den Querdenkern, die ihrerseits ein hervorragendes Beispiel für gelebte Meinungsfreiheit und die Wahrnahme des Demonstrationsrechtes sind.

Doch das genügt nicht. Ballweg aber möchte aufwiegeln, indem er mit de facto unhaltbaren Behauptungen das Gespenst einer sich selbst immer weiter ermächtigenden Regierung an die Wand malt. Er fährt dann in seiner Rede mit den Worten fort, „Aktuell ist die verfassungsgebende Mehrheit eine Mehrheit aus Bundestag und Bundesrat, das heißt, die Bevölkerung wird nicht gefragt.“

Auch diese Behauptung ist im Grundsatz falsch. Denn das klassisch notorische „Befragen der Bevölkerung“ findet durch freie Wahlen im Bund, in den Ländern, auf kommunaler Ebene und in Form von Europa-Wahlen statt. Zudem ist Deutschland nicht nur der oft zitierte Exportweltmeister, sondern auch NGO-Weltmeister. In kaum einem anderen Land gibt es so viele Bürger-Initiativen, Verbände, Vereine, Interessensvertretungen und sonst welche außerparlamentarischen Initiativen und Akteure, wie zwischen Flensburg und Passau. Das in diesem facettenreichen demokratischen Mitmach- und Beteiligungsprozess des Gehörtwerdens – wie es der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann einmal ausdrückte – nicht jede und jeder der gehört wird auch automatisch erhört wird, ist in der Demokratie systemimmanent. Nicht jeder Ruf führt sofort zur Reform oder gar Revolution. Der Marsch durch die Institutionen ist bekanntlich mühsam. Aus guten demokratischen und rechtstaatlichen Gründen.

Indem Ballweg, wie oben zitiert, den Eindruck erweckt, die Mehrheiten in Bund und Ländern hätten ein alleiniges Sagen und die Bevölkerung wird nicht gefragt, spielt er die am debattenfreudigen Miteinander interessierten und orientierten Akteure in der Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft gegeneinander aus. Nicht ein gemeinsames Ringen um den bestmöglichen Weg für alle Beteiligten wird betont, sondern es wird ein Spaltpilz zwischen Volk, Volksvertretern und Regierung gesät. Und mit dem dritten Teil in der hier behandelten Rede-Passage vom 29. 08. 2020 in Berlin, macht sich Michael Ballweg dann endgültig mit Reichsbürger-Ideologien gemein. Zunächst zitiert er Artikel 146.

Artikel 146

„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Dann fährt er fort und leitet aus Artikel 146 ab, „Deshalb starten wir heute damit, uns eine eigene Verfassung zu geben, die diese Schwächen behebt und die Macht an uns, die Menschen zurückgibt. Die Verfassung soll sich der Souverän geben und nicht Bundestag und Bundesrat. Und weiter an die zu Zehntausenden versammelte Menge, „Und wir sind die verfassungsgebende Versammlung. Ich rufe alle Menschen bundesweit auf nach Berlin zu kommen und gemeinsam mit uns an einer neuen Verfassung zu arbeiten…und ich rufe hiermit die Polizei auf, unsere verfassungsgebende Versammlung zu schützen.“

Artikel 146 interpretiert Michael Ballweg derart, dass er und das Volk als Souverän aufgerufen seien, eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen, da das bestehende Grundgesetz im Zuge all seiner demokratisch-parlamentarischen Entwicklungen von 1949 bis heute anscheinend doch nicht so schützens- und verteidigungswert ist, wie man es per eigenem Querdenken-Motto - „Wir für das Grundgesetz“ - bisher postuliert hat. Ursprünglich wollten die Querdenker einige angeblich beschädigte Eckpfeiler des Grundgesetzes reparieren und wiederherstellen, nun wollen sie es mit einer „verfassungsgebenden Versammlung“ ändern oder gar durch eine neue Verfassung ersetzen. Was denn nun, Michael Ballweg?

Die ballwegschen Behauptungen sind völlig abstrus und zeugen davon, dass man sich in den Reihen der Querdenker eben nicht mit verfassungsrechtlichen Fragestellungen und Antworten auskennt. Die Frage oder Option der Legitimierung der Verfassung, durch einen Volksentscheid ist überhaupt nicht Gegenstand des Artikel 146. Die Formulierung - „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen“ - betont dabei nur die Entscheidungsfreiheit des Volkssouverän an sich und formuliert nichts über die Art und Weise des Zustandekommens einer dann zukünftig wie auch immer gearteten Änderung, Erneuerung oder Ersetzung der bestehenden Verfassung durch eine andere. In allerbester demokratischer Praxis weist das aktuelle Grundgesetz in Artikel 146 daraufhin, dass es selbst einer Veränderungs- oder Anpassungsdynamik unterliegt, geändert werden kann, aber nicht soll oder muss.

Ein solcher Veränderungsweg wäre dann allerdings im Rahmen der gültigen demokratischen und rechtstaatlichen Ordnung zu beschreiten und nicht durch Fakten verfälschende und demagogische Appelle eines Michael Ballweg, der auf einer Bühne vor der Berliner Siegessäule zehntausenden Menschen zuruft, sie seien mit ihm als führendem Kopf eine „verfassungsgebende Versammlung“, die bitteschön von der Polizei zu schützen sei.

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