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Ende Gelände · Tübinger Oberbürgermeister hat sich selbst ausgegrenzt

Sprache ist Ausdruck des Denkens. Auch im Falle von Boris Palmer, dem aktuellen Oberbürgermeister von Tübingen.

Das Mitglied der GRÜNEN hatte sich 2004 mit seiner Kandidatur für das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters einer größeren Öffentlichkeit - über den Tellerrand einer schwäbisch Weltsicht hinaus - bekannt gemacht. Mit klarem Kalkül.

Das Palmer 2004 im damaligen Wettbewerb mit dem Amtsinhaber Wolfgang Schuster (CDU) und der langjährig bekannten und in weiten Kreisen hochgeschätzten SPD-Kandidatin Ute Kumpf bestenfalls mehr als nur einen Blumentopf gewinnen mochte, dürfte ihm und seinem Wahlkampf-Team bereits am Start klar gewesen sein. Doch darum ging es im Kern gar nicht. Boris Palmer hatte die Kampagne seines OB-Wahlkampfes in Stuttgart geschickt und letztendlich erfolgreich dazu genutzt, sich als Mit-, Vor- und Querdenker im grünen Lager, für die damals zwei Jahre später angestandene Oberbürgermeisterwahl in der Stadt Tübingen zu empfehlen. Stuttgart nutzte er als Sprungbrett für den Sprung in den Tübinger Pool.

Zugute kam ihm dabei im Stuttgarter OB-Wahlkampf, das er nach dem ersten Wahlgang ein recht ansehnliches Zustimmungsergebnis einfuhr. Höher als erwartet möglicherweise. Wolfgang Schuster (CDU) 43,5%, Ute Kumpf (SPD) 32,8% und Boris Palmer (GRÜNE) 21,5%. Amtsinhaber Schuster verfehlte im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit. Palmer kam die so genannte Rolle des „Königsmachers“ zu.

Sein Ergebnis war zu gering, um im zweiten Wahlgang mit ernsthaften Erfolgsaussichten noch mitmischen zu können. Doch 21,5% - etwas mehr als ein Fünftel aller Wahlbeteiligten in der Stuttgarter Bevölkerung - waren hoch genug, um nach eigenem Rückzug eine wahlentscheidende Empfehlung in Richtung des CDU-Kandidaten Wolfgang Schuster oder der SPD-Kandidatin Ute Kumpf auszusprechen. In seinem Buch „Erst die Fakten, dann die Moral“ schrieb Boris Palmer später dazu: „Das Jahr 2004 war für mich ein besonderes. Ich kandidierte erstmals für das Amt eines Oberbürgermeisters, noch nicht in Tübingen, sondern in der Landeshauptstadt Stuttgart.“ Noch nicht in Tübingen.

Und dann einige Absätze weiter, nachdem mitten im OB-Wahlkampf klar wurde, dass das Bahnprojekt Stuttgart 21 um 250 Mio. Euro - 2,8 Mrd. statt zuvor 2,55 Mrd. Euro - teurer werden würde: „Im Wahlkampf stellte ich daher die möglichen finanziellen Belastungen des Projekts für die Bürgerschaft in den Vordergrund. Es gelang mir sogar, dem damaligen OB Wolfgang Schuster im Gegenzug für eine indirekte Wahlkampfempfehlung vor dem zweiten Wahlgang die Zusage abzuringen, einen Bürgerentscheid in der Stadt durchzuführen, sollte es zu einer wesentlichen Kostensteigerung in der Stadt kommen.“

Ute Kumpf machte Palmer ähnliche Avancen im Sinne eines „Deals“ hinsichtlich eines Bürgerentscheids. Doch Ute Kumpf blieb standhaft und wiese Boris Palmer die Tür. Wohl wissend, dass die damals ständig postulierten Rufe nach Bürgerentscheiden zu allerlei Fragen rund um Stuttgart 21, am Ende kaum bis hin gar nicht umsetzbar gewesen wären. Ute Kumpf wollte nicht tricksen. Sie hatte ein erstes Abstimmungsergebnis pro Alternative zu Wolfgang Schuster eingefahren, dass ihr im zweiten Wahlgang alle Chancen offen hielt. Doch Boris Palmer als grüner „Königsmacher“ entschied sich zugunsten des christsozialen Kandidaten Wolfgang Schuster. Rein Taktisch. Denn die OB-Wahl in Türingen wartete auf ihn.

Damals - am Ende des Tages zog Boris Palmer seine Kandidatur zurück und sprach eine Wahlempfehlung für den CDU-Kandidaten Wolfgang Schuster aus. „Ich rufe nicht zur Wahl von Herrn Schuster auf, aber meine Präferenz ist klar“. Und in Richtung Ute Kumpf monierte er parallel, das sie in Sachen Stuttgart 21 eine „wankelmütige Sowohl-als-auch-Haltung“ vertreten würde.

Wolfgang Schuster wurde im zweiten Wahlgang mit 53% erneut zum Stuttgarter Oberbürgermeister gewählt, führte aber den, ihm per angeblicher Zusage durch Palmer abgerungenen Bürgerentscheid zu Stuttgart 21, in der Stadt nie durch.

Ute Kumpf landete bei 45%. Doch der ökologisch angeblich tief verwurzelte und hundertprozentige Bahnbau-Projekt-Gegner Palmer hatte dem hundertprozentigen Stuttgart 21 Befürworter Schuster per kaum verholener Sympathiebekundung genügend Stimmprozente zugeschaufelt. Die international eher selten zitierte Winnender Zeitung beschrieb es so: „Bei der virtuosen Anwendung des Tricks 17 („Selbstüberlistung“) setzt Palmer damit neue Maßstäbe.“

Im Jahr 2006 - nachdem er sich in Stuttgart vorgewährmt hatte - trat Boris Palmer schließlich als Oberbürgermeister-Kandidat in Tübingen an und erzielte im ersten Wahlgang mit knappen 50,4 % die nötige absolute Mehrheit. 2014 wurde er mit satten 61,7% ein zweites Mal ins OB-Amt gewählt.

Im Ländle hat man als Wähler einen Bürger- oder Oberbürgermeister immer acht Jahre „an der Backe“. Im Falle von Partei-Freund Fritz Kuhn in Stuttgart hat sich diese Zeit seit 2012 fast wie eine Ewigkeit in Lahmhaftigkeit angefühlt. In der Landeshauptstadt ist Ende November 2020 OB-Wahl und Kuhn tritt nicht erneut an. Statt ihm hat Veronika Kienzle aus den Reihen der GRÜNEN ihre Kandidatur erklärt. In Tübingen strebt Boris Palmer 2022 seine dritte Amtszeit an. Und das dürfte schwer werden.

Zweifelsfrei hat Boris Palmer während der zurückliegenden 14 Jahre einiges in für Tübingen bewegt und erfreut sich angemessener Beliebtheit in der Universitätsstadt. Seine jüngsten Bemühungen im Bereich Wohnungsbau-Planung wider die renditegeilen Investoren und für bezahlbares Wohnen in der Kommunen, sind hier lobenswert hervorzuheben. Außerhalb des kommunalen Wirkungskreises allerdings, quasi gleich einen Meter hinter der gelben Beschilderung mit dem Stadtnamen an den Ortsausfahrtstraßen in alle Himmelsrichtungen, ist die Beliebtheit Palmers mittlerweil gegen Null gesunken.

Mit zu vielen und zu extrem überzeichneten Äußerungen und einigen sehr fragwürdigen Begleitmaßnahmen auf kommunaler Ebene in den letzten Jahren, hat sich Boris Palmer immer öfter im Abseits verrant und mittlerweile selbst ins Aus geschossen. Beispielsweise waren da Äußerungen zu einer Image-Werbung der Deutschen Bahn, die auf ihren Internetseiten Reisende diverser Ethnien und Hautfarben darstellte, auch Prominente in Personen aus der Medien-Welt, wie z.B. den Koch Nelson Müller oder die Moderatorin Nazan Eckes. Palmers Facebook-Community Kommentare dazu: „Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die „Deutsche Bahn“ die Personen auf dieser Eingangsseite ausgewählt hat. Welche Gesellschaft soll das abbilden?“ Abgebildet wurde - am werbenden Beispiel mit einzelnen Personen - unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt. Für Boris Palmer allem Anschein nach nicht nachvollziehbar gewesen.

Oft und provokant hatte Palmer in den zurückliegenden Jahren vom Bürgermeisterschreibtisch aus, die Sozialen Netzwerke mit Statements bedient, die vermeindlich Tacheles reden wollten, oft aber eine chauvinistische bis hin latent rassistische Sicht auf die Welt - zumindet unterschwellig mittransportierten. Jüngsten Beispiel im Zuge des allgemeinen KrisenbewälltigungsSzenarios in der laufenden SARS-CoV-2 Pandemie zum Thema der Fürsorge gegenüber älteren Menschen und dabei auch der Pflegesituation in Altersheimen. Palmer im SAT1 Frühstücksfernsehen am 28. 04. 2020: "Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“.

Brutale Verirrung im Menschenbild. Gespeist möglicherweise im Fahrwasser von Alexander Kekulé aufgrund des Papiers „Raus aus dem Lockdown - so schnell wie möglich“ (siehe SPIEGEL vom 24.04.2020). Als „Six-Pack“ hatten wenige Tage zuvor Alexander Kekulé, Julian Nida-Rümelin, Boris Palmer, Christoph M. Schmidt, Thomas Straubhaar und Juli Zeh einen Debattenbeitrag verfasst, der die pandemische Bedrohung als extreme Grippe-Welle tituliert und damit aus meiner Sicht verharmlost.

Der eigene Bundesvorstand in Abstimmung mit dem baden-württembergischen Landesvorstand der GRÜNEN, hat Boris Palmer inzwischen klipp und klar erklärt, dass er von der eigenen Partei zur OB-Wahl 2020 in Tübingen keinerlei Unterstützung mehr erhalten wird. Das Fass zum Überlaufen brachten seine jüngsten Äüßerungen.

Boris Palmer ist - aus meiner Sicht - eine tragische Figur im Politik-Geschäft. Ja Politik ist kein Ponyhof und neben allen demokratischen Prozessen und Mitwirkungsmöglichenkeiten des souveränen Volkes über einen reinen Wahlakt mit Kreuzchenmachen hinaus - ist insbesonde für die dann in Ämter gewählten Volksverterer - politisches Wirken ein Geschäftsauftrag. Bereits gut Erreichtes gilt es zum Wohle aller möglichst noch besser zu machen. Demokratie ist kein starrer Zustand, sondern stetiger Prozess.

Ja - und auch dies - es wird aus fast tausenderlei Gründen zunehmend schwieriger, den „Laden“ vom kleinkarierten Pepita in kommunlaer Nachbarschaft bis hin zum großen Karo auf dem Schachbrett der sogannnten Globalisierung zusammenzuhalten. Die zukunftsorientierte gesamtgesellschaftliche Planung und Umsetzung unserer weiteren Geschicke war sowohl national als international noch nie so komplex, kompliziert und kreativschübend, wie seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Wer im aktuellen Hier und Jetzt zu sehr nach hinten denkt - nichts gegen gut tradierte Konzepte aus alten Tagen - und seinen vernunftbegabten Geist zu wenig nach vorne ausrichttet, der oder die verliert. Vom „alten Trommler“ Wolfgang Neuss stammt der ungefähr richtig zitierte Ausspruch: „Wir benötigen weniger Nachdenker und Vordenker, sondern viel mehr Mitdenker.“ An dieser Stelle güße ich Claudia Roth.

Boris Palmer ist ein Verlierer dieser aktuell im Laufen befindlichen Moderne. Mit populistisch überzeichneten Statements griff er allzuoft in die unaufgeräumte Kiste des „alten Affen Angst“. Schade eigentlich - er hätte das Zeug zu einem echten Hoffnungsträger gehabt. Mitglied der GRÜNEN kann er meinetwegen bleiben - ohne weiter auszuübende öffentliche Ämter. Bleibt also Rosenzüchten und Bücherschreiben. Letzteres zumindet klappt ja bei Tilo Sarrazin in Sachen Broterwerb hervorragend.

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