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Die SPD seit Gerhard Schröders Zeiten – dreimal ordentlich in die „Fresse bekommen“

„Wer nicht lächeln kann, der soll keinen Laden aufmachen.“ Dieses chinesische Sprichwort bemühend, beendete Sigmar Gabriel am 13. November 2009 seine Rede auf dem Dresdner Parteitag, nach der – schon damals dramatisch - verlorenen Bundestagswahl. „Lasst uns ordentlich Läden aufmachen in Deutschland.“ Lautete sein letzter, appellierender Satz in jener Dresdner Rede.

Gut sieben Jahre später, seit Januar 2017, brachte Martin Schulz als Kanzlerkanidat zwar das Lächeln in die Reihen der Sozis zurück – das mit der Ladeneröffnung allerdings, hat auch er nicht hinbekommen. Seit drei Bundestagswahlen, 2009 mit Steinmeier, 2013 mit Steinbrück und 2017 mit Schulz, kommt die SPD nicht aus dem 20-bis-25-Prozent-Tunnel heraus. Fast schlimmer noch - das Licht am Ende des Tunnels wird weiter hin kaum sichtbar. Abgedämpft durch einen langen GroKo-Schatten, steht die SPD im Dunkeln da. Nur Andrea Nahles wirft ein erstes neues Licht in die Finsternis und auf die trüben Gesichter der Genoss*innen. „Kleine Taschenlampe brenn’ , schreib "Ich lieb' dich" in den Himmel. Oh dann weiß ich es genau, keine Macht kann uns mehr trennen.“ *

Nichts gegen Nahles. Sie war in der Tat als Ministerin für Arbeit und Soziales die fleißigste und im Ergebnis die erfolgreichste ‚Arbeitsbiene’ in der rudimentierten Proletarier-Partei. Tonangebend, Richtungen bestimmend und zumeist mit klarer Gangart unterwegs. Kaum ein Wunder, dass sie nun im - für Sozis ungewohnten - Turbo-Verfahren, zur Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde. Und kaum hatte sie sich den Kameras und neben dem scheidenden Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann freudig und staatstragend für die Wahl bedankt, raunzte sie wenige Zeit später in Richtung der ggf. kommenden Regierungskolalition aus CDU/CSU, FDP und GRÜNEN, „Ab morgen kriegen sie in die Fresse.“ Hieß es nicht stets seitens der SPD, dass man den Feinden von rechtsaußen, mit klaren Argumenten entgegentreten soll, um sie zu entzaubern, anstatt sich selbst deren chauvinistischer und verächtlich machender Rhetorik zu eigen zu machen? Der – ist schon klar – im Nachhinein von Andrea Nahles als Scherz bewertete Ausspruch, war nicht gerade der beste Weg, um für einen Tag auf die Titelseite der BILD-Zeitung zu gelangen. Ein bisschen sollte man die 'Ex-Juso-Haubitze' innerparteilich durchaus auch im fortgeschrittenen Alter bremsen - nicht das sie beim kommenden Dezember-Parteitag 2017 der SPD plötzlich wieder ans Rednerpult prescht, um aus dem Bauch heraus das Hirn der Partei zu verwirren.

Zweifelsfrei benötigt die SPD nach dem langjährigen Oberverwalter Oppermann eine kämpferischere, charmant-agressivere und multi-kommunikationsfähigere Person an der Fraktionsspitze. In der Opposition sowieso. Doch vor zuviel Attacke aus dem Lehrbuch der frühen Heiner-Geißler-Schule muss gewahrnt werden. Es reicht schon aus, die Vulgär-Rhetorik in den Reihen der AfD ertragen und immer wieder neu korrigieren zu müssen. Alle anderen Parteinen geben sich also ab jetzt bitte etwas mehr Mühe, die politische Streitkultur qualitativ wieder auf ein höheres Niveau zu hieven. Denn was wir in Deutschland für die Zukunft wirklich nicht gebrauchen können - bei aller vielfältig kritischen Diversität im deutschen Diskurs - ist ein Verfall von Respekt, Anstand, Fairness und Sittlichkeit. Wir dürfen nicht zur Rumpel-Republik verkommen. Mindestens diese Mahnung und Wahrnung, sollten alle Beteiligten aus dem ‚Erbe Norbert Lammerts’, dem nun ebenfalls scheidenden Bundestagspräsidenten, ab sofort mit ins Gepäck für die weitere Reise nehmen.

Für Martin Schulz, so unkt manche und mancher inzwischen längst hinter vorgehaltener Hand wäre nun Endstation. Der einst so viral gefühlte und wenig real tatsächlich begreifbare hochgehypte und bejubelte Schulz-Zug, wäre am Wahlabend direkt auf’s Abstellgleis irgndwo hinter dem Willy-Brandt-Haus gefahren. Und da steht er nun, der ‚ICE 2017 Würselen-Berlin’. Ohne weiteren Taktfahrplan.
An dieser Stelle erhält die wehrte Leserschaft per extra Leerzeile die Möglichkeit, sich alle denkbare DB- und SPD-Witze durch den Kopf gehen und auf die Schenkel schlagen zu lassen, um danach wieder mit Ernst dem Text zu folgen.


Mit Martin Schulz als gescheitertem Kandidaten zur Erringung der Kanzlerschaft und aktuell amtierenden Parteivorsitzenden steht die SPD in einer der zweifelsfrei herbesten und schmerzlichsten Niederlage in ihren jüngeren Geschichte, so gut da, wie selten nicht. Diese Wahlniederlage ist der größte Gewinn für die Sozis, seit dem Tag im Jahr 1975 Herbert Wehner einst durch den Plenarsaal den, vor weiterer Debatte flüchtenden Christunionisten, hinterherrief, „Wer rausgeht muss auch wieder einkommen.“
Damals ging es um eine Wehner-Rede zum Terrorismus (RAF), die die Union zum Verlassen des Plenums veranlasste. Deutschland im „Heißen Herbst“. Die Sozial-Liberale Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt mittendrin.

Heute geht es ebenfalls um „heiße“ Fragen – ganz anderer Natur. Flüchtlingskrise nennen es die einen, andere benennen es besser – globale Migrationsverantwortung. Es war Martin Schulz, der im Spätsommer – vielleicht sogar aus einer Art alleingelassener Hilflosigkeit im Wahlkampf in Bezug auf die eigene Partei – das Flüchtlingsthema als Migrationsthemea von sich aus neu aufgemacht hatte. Es gehört nicht zur Wahlkampfstrategie im Willy-Brandt-Haus. Auch in der CDU-Kampa galt es im Wahlkampf, die weiter schwelenden ungelösten Probleme zu diesem Thema nicht zu behandeln. Der bis heute nicht beigelegte Merkel-Seehofer-Streit in Fragen der Flüchtlingspolitik wurde einfach mit dem Friede-Freude-Eierkuchen-Sloagan vom „Land in dem wir gut und gerne leben“ überkleistert. Reden ist silber, schweigen ist Gold. Und totschweigen des Flüchtlingsthemas war aus Sicht der CDU/CSU Platin. So hoffte man. Doch Hoffen und Harren hielt Merkel und Seehofer zum Narren.

Das Martin Schulz mit eigener Beinfreiheit ins ‚Wespennest’ stieß, das Flüchtlingsthema wieder verstärkt aufnahm, dies hat ihm und der SPD nichts genützt, aber es hat die CDU/CSU in ihrem Augen-Zu-Und-Weiter-So-Kurs deutlich geschwächt. Weil die Union zum Ende des Wahlkampfes immer stärker herausgefordert war trotzdem Farbe zu bekennen und sich dabei die eigene Uneinigkeit und Konzeptionslosigkeit offenbarte. Zu einem späten, zu späten Zeitpunkt – aber immerhin. Nach der Wahl bricht nun der Eiter einer angeblich vernarbten Wunde im christunionistischen Gesamtkörper umso giftiger wieder aus dem ungeheilten Entzündungsherd hervor. Danke Martin Schulz, für dieses gut dirigierte und sondierende Patientengespräch aus der Artzpraxis der Sozialdemokratie. Schauen wir mal, wie groß die restlichen Selbstheilungskräfte von CDU und CSU nun noch sind.

Ja – und ich füge ein Basta! gleich an den Satzanfang – es war richtig und es war auch in der so genannten Elefantenrunde ebenso richtig, dass Martin Schulz die Union vehement für ihre fast zölibatäre Enthaltsamkeit in Sachen Ringen um den besten politisch-gestalterischen Weg vehement kritisiert hat. Unter dem vorwurfsvollen Begriff des „Anschlags auf die Demokratie“ zusammengefasst. Das war kein böser Tritt vor’s Schienbein der Raute-Regentin Angela Merkel und auch kein Nachtreten eines Enttäuschten als Wahlverlierer. Nein, das war ein ernsthafter und wesentlich bedeutsamer Rundum-Appell an die gesamtgesellschftliche Verantwortung der deutschen Demokratie, eingebunden ins Konzert Europas und global mitspielend, auf den Bühnen der Welt.

Martin Schulz sollte bleiben, gerade weil die, durch viele Akteure im Willy-Brandt-Haus miserabel gemachte Kampagne für Schulz als dem postulierten 'Merkel-Angreifer', vom ersten Tag an, als zum Scheitern verurteilt erkannt werden konnte. Dieser Mann benötigt nun - in den Tagen danach - seine eigene Chance. Jetzt, im fortzusetzenden Amt als Parteivorsitzender, kann er erst zu dem auflaufen und das zeigen, was als Potential in ihm steckt. Ein europäischer Deutscher, statt einem deutschen Europäer.

Ja – liebe Nachdenker und Vordenker in der SPD, merket auf – sozialdemokratische Erneuerungsprozesse (wenn sie so gut laufen wie einst mit Thorsten-Schäfer Gümbl in Hessen und nicht so zäh und visionslos wie mit Leni Breymaier derzeit in Baden-Württemberg) können auch mit einem klugen und kreativen Mitdenker mit reduziertem Haupthaar, Brummbärbart und mäßig engagierter Herrenschneiderberatung durchaus gut für die nahe Zukunft gestaltet werden.
Outfit und Style zählen heutzutage in der so genannten Medien-Demokratie natürlich mehr als früher, aber richtig sexy ist doch nach wie vor die Erotik der Gehirnwindungen. Und da denke ich, kann man als Sozialdemokrat die Zukunft der Partei getrost Martin Schulz weiterhin anvertrauen, um Deutschland weiter nach vorne zu bringen. Das bisher übliche ‚Köpferollen lassen’ bringt doch schon lange nichts mehr. Man sollte aus dem gut vorhandenen Potential personalpolitisch das Beste machen. Neue Besen kehren auch nur solange gut, bis sie durch’s Kehren – eben auch wieder - abgenutzt sind.

Apropos „Alter Besen“. Wo steckt eigentlich der, der es seit gut sieben Jahren überhaupt als Parteivorsitzender erst möglich gemacht hat, das die SPD nachhaltig eher einig als tatgtäglich zerstritten dasteht? Es kann doch nicht sein, das für Sigmar Gabriel am Ende lediglich der Posten des Gesamtelternvertreters der Goslarer Kindergarten- und Grundschulbetriebe übrig bleibt.

Meiner bescheidenen Meinung nach wäre Sigmar Gabriel der richtige für das Amt des SPD-Generalsekretärs. Genau genommen wäre nur ein Ortsvereinsmitglied nötig, ihn in den Gremien der Partei jetzt vorzuschlagen. Kaum einer wie er geht aus der oberen Führungsetage dorthin, wo es schwierig ist. Rein ins Leben mit nötigem Biss. Derzeit weithin gut anerkannt und gelobt im Außenamt.
Sigmar Gabriel selbst hatte es für die SPD 2009 bereits gefordert – nennen wir es das sozial orientierte Reingrätschen ins Leben, nicht immer sicher seiend, das dabei die ideale Gerechtigkeit für alle immer unter dem Strich herauskommt.

Diesen Artikel begann ich mit einem Gabriel-Zitat aus seiner Dresdner Rede und ich ende nun ebenfalls mit einem Zitat Sigmar Gabriels aus jener Rede – es muss ja nicht immer Willy Brandt sein:
„Wir müssen raus ins Leben, dahin, wo es laut ist, dahin, wo es brodelt, dahin, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist, liebe Genossinnen und Genossen, weil nur da das Leben ist, wo es anstrengend ist. Nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben!“


* Neue Deutsche Welle Interpret: Markus, Musik & Text: Axel Klopprogge, Album: Kugelblitze & Raketen (1982)

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